Mit barrierefreier Kommunikation alle Kunden erreichen

Nachlese zu unserer Veranstaltung vom 14. Oktober 2015 in Berlin-Kreuzberg

Inklusion trifft Wirtschaft

Die Berliner Wirtschaftsgespräche waren am 14. Oktober 2015 zu Gast im Kreativ- und Bildungszentrum für Kinder und Jugendliche „Die gelbe Villa“ in Kreuzberg.

Mit der Begrüßung durch Monika Ruth erfuhren die Gäste Genaueres über die soziale Einrichtung. Gegründet wurde die gelbe Villa von der Stiftung Jovita des Hamburger Bankhauses M. M. Warburg & CO, die die Perspektiven und Zukunftschancen junger Menschen verbessern will. Seit 2004 fördert sie mit einem umfangreichen kostenfreien Angebot die Interessen und Talente junger Menschen, gibt Impulse und schafft so mehr Chancengerechtigkeit. In den Kreativwerkstätten und Ateliers lernen Kinder und Jugendliche mit allen Sinnen und können sich auf vielfältige Weise entfalten.

In diesem kreativen Ambiente leitete Thomas Andersen von den Berliner Wirtschaftsgesprächen e. V. direkt zum Thema des Abends über.

Der demografische Wandel bewirkt tiefgreifende Veränderungen in Gesellschaft und Wirtschaft. 2030 wird ein Drittel der deutschen Bevölkerung über 60 Jahre alt sein. Themen wie Barrierefreiheit und Inklusion rücken mittlerweile auch in den Fokus von Marketingstrategen der Unternehmen.

Die Moderatorin Ursula Voßwinkel, Sprecherin von konzept barrierefrei, führt mit der Frage ein, wie dieser Aspekt die Logik der Kundenkommunikation verändern wird und welchen Beitrag dabei die Digitalisierung leisten kann? Die fachkundigen Podiumsgäste gingen im Laufe des Abends sehr vielfältig auf diese Fragen ein.

Inklusion ist mehr als die Steigerung von Integration

Christine Braunert-Rümenapf, Referentin in der Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales beim Berliner Landesbeauftragten für Menschen mit Behinderung, stimmte in das Thema mit dem Leitbild der UN-Behindertenrechtskonvention ein und umriss die Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche Inklusion, damit Unternehmen die Vielfalt als Gewinn begreifen.

Inklusion ist nicht als Steigerung von Integration zu verstehen, sondern vollzieht mit seiner Verwirklichung ein völlig neues Denken. Menschen werden nicht in eine vorhandene Umwelt integriert, sondern die Gesellschaft ändert sich, indem sie Barrieren erst gar nicht errichtet. Dem Anspruch, niemand darf durch seine Behinderung benachteiligt werden, sind in den vergangenen Jahren viele Gesetze und Verpflichtungen gefolgt.

Der Abbau von Barrieren wird als gesamtgesellschaftliche Aufgabe begriffen, denn barrierefreie Anpassungen gehen weit über bauliche Aspekte hinaus. Sie erobern auch die Technik, wie mit der Sprachfunktion von Handys, und gipfeln im „Design for all“, dem universellen Design als generellen Gestaltungsansatz.

Barrierefreie Kommunikation heißt Zugänglichkeit für alle – sowohl (Universal Accessibility) für sinneseingeschränkte wie blinde und gehörlose Menschen, Menschen mit Lernschwierigkeiten, aber auch Migranten und ältere Menschen. www.berlin.de/lb/behi/ueber-uns/

Barrierefreiheit und „Design for all“ sollten Bestandteil von Ausbildung und Studium sein

Die Architektin Monika Holfeld, seit 1997 freiberuflich mit ihrem eigenen Büro Architektur und Farbgestaltung tätig, beschäftigt sich intensiv mit Barrierefreiheit. Sie plant und erarbeitet Leitfäden zu den Themen „Wohnen im Alter“. Sie hat viele Farbkonzepte für Krankenhäuser, Arztpraxen, Senioreneinrichtungen und Demenzwohnungen entworfen.

Ihr aktuelles Buch „Licht und Farbgestaltung“, erschienen im Beuth Verlag, beschäftigt sich mit Grundlagen und praktischen Beispielen wie der Gestaltung von Demenzeinrichtungen, Seniorenanlagen und öffentlichen Gebäuden. Noch immer muss sie feststellen, dass die Barrierefreiheit, die letztendlich allen zugutekommt, bei der Planung von Neubauten nach wie vor selten eine Rolle spielt. Sie plädiert dafür, grundsätzlich bei allen Bauentscheidungen Fachleute hinzuzuziehen, damit nicht – wie in der aufwändigen Mall of Berlin zu sehen – Einrichtungen entstehen, die zum Beispiel für Sehbehinderte gänzlich ungeeignet sind. Allein die viel zu hoch angebrachten Piktogramme und Hinweisschilder und der durch die eingesetzten Materialien verursachte Blendungseffekt machen eine Orientierung teilweise unmöglich.

Anhand einiger Beispiele demonstriert Monika Holfeld, wie wichtig die Beachtung des zwei-Sinne-Prinzips ist und welche große Wirkung durch Kontraste, Farben und Form zu erreichen ist. Frau Holfeld ist überzeugt, dass Barrierefreiheit bzw. Zugänglichkeit als Prüfungsfach an Fachund Hochschulen gelehrt werden müsste. Genauso gehört die Thematik bereits an die Berufsschulen, damit künftige Handwerker in das Aufgabengebiet hineinwachsen. Ein Zwischenruf aus dem Publikum bestätigt das: schließlich diskriminiere der Planer von heute, der Barrierefreiheit außer Acht lässt, sich bereits selbst als alter Mensch, der er einmal sein wird.

Barrierefreie Kommunikation ist Stand der Technik, kein Kostenfaktor

Martin Stehle studierte Medieninformatik und wandte sich aufgrund eigener Hör- und Gebehinderung sehr früh dem noch unbekannten Gebiet der barrierefreien Websitegestaltung zu. Mit der Online-Agentur Aperto gewann er mehrmals den BIENE-Award, den damals größten Wettbewerb um barrierefreie Websites in den D-A-CH-Ländern. Er gewann u.a. Gold für die Website des Landes Baden-Württemberg. Heute ist er mit seiner Firma Stehle-Internet freiberuflich für Unternehmen, Behörden und Organisationen tätig.

Auf die Frage, ob es inzwischen eine gesteigerte Nachfrage nach barrierefreier Websitegestaltung gäbe meinte er: Bei Unternehmen, die Senioren und Behinderte zu ihren Kunden zählen, wie die Berliner Verkehrsbetriebe, ist eine wachsende und gezielte Nachfrage nach Barrierefreiheit zu beobachten. Sie kennen die Bedürfnisse ihrer Kunden und bieten bereits Lösungen an.

Er demonstrierte am Beispiel von Shops, wie Barrierefreiheit funktioniert. Die Gestaltung muss maschinenlesbar angelegt werden. Ein Bildschirmleser, Screenreader genannt, wandelt dann Inhalte der Website in Sprache um oder gibt sie auf einer Braille-Zeile aus. Blinde und viele Sehbehinderte können so Texte und visuelle Inhalte erfassen. Ein Screenreader ist eine komplexe Software. Es geht nicht nur darum, alles vorzulesen, was sich gerade auf dem Bildschirm befindet.

Der Nutzer muss auch komplexe Interaktionen mit dem Rechner ausführen können. Deshalb ist es wichtig, dass alle Beteiligten – vom Redakteur über den Gestalter bis zum Programmierer – bei der Konzeptionierung und Erstellung einer Website von Beginn an eng zusammen arbeiten. Alle Nachbesserungen kosten Zeit und Geld.

Martin Stehle machte deutlich: wir erleben alle einen gewaltigen Technologieschub in der Digitalisierung unserer Welt. Jeder will per Tablet und Smartphone überall und jederzeit Zugriff auf Informationen haben, d. h. bereits von zu Hause aus oder unterwegs in öffentlichen Räumen und vor Ort. Das ist die Chance, barrierefreie Kommunikation ganz selbstverständlich und vor allem wirtschaftlich einzuführen mit einem Nutzen für alle.

Barrierefreiheit ist kein Produkt, sondern ein Prozess

Der Kommunikationsexperte Markus Müller-Trabucchi ist Leiter Unternehmensentwicklung im SRZ Berlin, besscom AG. Er beschäftigt sich seit 1990 mit der Transmission papierbasierter Informationsmedien in die digitale Welt. Er betreut Unternehmen im Bereich Gesundheit, Pharma sowie Verwaltung und Regierung bei der Umsetzung barrierefreier Publishinglösungen und barrierefreier PDF. Er engagiert sich auch ehrenamtlich in verschiedenen Arbeitsgremien.

Er meint, viele hätten noch nicht begriffen, dass Barrierefreiheit ein Prozess und kein Produkt ist. Wer sie also von vornherein in der Planung berücksichtigt, braucht keine Extra-Kosten für barrierefreie Websites und darin enthaltene barrierefreie PDFs zu kalkulieren. Was letztere von den „normalen“ unterscheidet, demonstrierte er anhand einiger Beispiele.

Barrierefreie Webinhalte sind nach Auskunft des Experten heute auch innerhalb von PDF-Dokumenten mit Standard-Branchensoftware zu erzeugen. So vermitteln von ihm herausgegebene Publikationen beispielsweise Kommunikationsexperten und Gestaltern das nötige Grundwissen. Das Ziel ist immer, nicht nur Randgruppen zu bedienen, sondern jedem an jedem Ort zu jeder Zeit Informationen in einem benutzerorientierten Produktkontext zugänglich zu machen.

Die Broschüre ist kostenlos online oder als DL verfügbar: http://www.pdfa.org/2013/06/pdfua-kompakt/?lang=de

Die meisten Behinderungen sind nicht sichtbar und verstärken sich mit zunehmendem Alter

Rolf Schrader ist Geschäftsführer beim Deutschen Seminar für Tourismus DSFT Berlin e. V., das gemeinsam mit der nationalen Koordinierungsstelle für barrierefreien Tourismus das Projekt „Tourismus für Alle“ entwickelte. Ziel ist die einheitliche Kennzeichnung in der gesamten Reise- und Servicekette zum „Barrierefreien Reisen/Tourismus für Alle in Deutschland“. Bundesweite Qualitätsstandards und verlässliche Informationen sollen den Menschen mit Handycaps das Leben erleichtern.

Ein Beispiel ist das bundesweit einheitliche Kennzeichnungssystem „Reisen für Alle“, das in den nächsten drei Jahren eingeführt werden soll: www.reisen-fuer-alle.de

Künftig sollen alle Reisenden, von Senioren, Menschen mit Behinderung bis zu Familien mit Kinderwagen und Gepäck, verlässliche Informationen über die touristischen Anbieter erhalten, die ihnen Reiseentscheidung und Orientierung erleichtern. So können entschieden mehr Menschen an Reisen und Ausflügen teilhaben als bisher.

Damit die Kennzeichnung der Barrierefreiheit auch wirklich einheitlich erfolgt, wurden dafür keine Selbstauskünfte zugelassen. Nur geschultes Personal bewertete sämtliche Qualitätskriterien, die für eine Reiseentscheidung wichtig sind. Entwickelt wurden sie zuvor mit Betroffenen.

Das gemeinsame Programm mit 80 Partnern konnte inzwischen etwa tausend Betriebe zertifizieren, und zwar in der gesamten Servicekette von Flughäfen, Museen, Nahverkehrsanbietern, Ausflugsschiffen bis zu Hotels.

Auch Rolf Schrader beklagt, dass sich Anstrengungen verschiedener Städte allein in Erleichterungen für Gehbehinderte und Rollstuhlfahrer erschöpfen.

In einer lebhaften Diskussion waren viele Teilnehmer der Meinung, dass Inklusion ein Gewinn für die Gesellschaft ist. Denn vieles, das Menschen mit Behinderungen hilft, nützt auch Älteren, Familien oder Menschen mit Migrationshintergrund. Unternehmen, die ökologisch und sozial handeln, sollten Aspekte der Barrierefreiheit selbstverständlich einbeziehen. Das ist ein klarer Wettbewerbsvorteil, setzt allerdings das barrierefreie Denken im Sinne der Inklusion voraus.

Nach diesem komprimierten Einblick in das Thema barrierefreie Kommunikation wünschten sich viele Teilnehmer weitere Veranstaltungen mit detaillierteren Ausführungen zu den einzelnen Themengebieten.

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